Als ich heute Radio Jorns #91 hörte, schlich sich eine leise Sorge ein – werden wir tatsächlich die hundertste Folge erreichen, ohne dass ein einziger Greg Brown-Song erklungen ist?
Andreas ist großer Fan von Tom Waits. Da muss ihm doch Brown auch bekannt und eine Freude sein, oder?
Diese Frage weckt eine Erinnerung in mir, die nur das Leben selbst hat schreiben können. Vor mehr als drei Jahrzehnten stand ich mit meiner Freundin an einem Abend vor einem geschlossenen High-End-Audiogeschäft. Durch die Schaufenster waren Röhrenverstärker und audiophile Kostbarkeiten zu sehen, deren Wert dem eines Kleinwagens gleichkam. Als Student – und mit entsprechendem Erscheinungsbild – gehörte ich definitiv nicht zur Zielgruppe dieses Ladens.
Ein älterer Herr (zumindest aus damaliger Perspektive) war gerade dabei, die vergitterte Eingangstür abzuschließen, nahm sich dabei aber auffallend viel Zeit. Er hörte unserem Gespräch zu – über die pure Ästhetik solcher Anlagen, die Vorfreude beim Einschalten, wenn die Röhren langsam auf Betriebstemperatur kommen, und die ewige Frage: Hört man den Unterschied wirklich?
Der Mann sprach uns an: „Möchten Sie es herausfinden?“ Uns beiden war klar, dass wir auf absehbare Zeit keine Kunden für ihn sein würden. Doch darum ging es ihm nicht. Er wollte einfach seine Leidenschaft für perfekten Klang teilen. Er schloss wieder auf, führte uns eine Treppe hinauf in einen kleinen Vorführraum mit imposanten Standlautsprechern, die meine eigene Körpergröße überragten. Die Verstärker brauchten ihre Zeit zum Aufwärmen. Und dann – statt des erwarteten Vinyls – legte er eine CD ein: Greg Brown, „Poet Game“. Produziert von Red House Records, einem Label, das eigens gegründet wurde, um Browns Musik zu veröffentlichen – von Feldman und Brown selbst.
Im nächsten Moment glaubte ich, in einem intimen Klubkonzert zu sitzen, mit Brown keine drei Meter vor mir auf der Bühne.
Es gibt Momente, die man nicht vergisst. Die etwas verändern. Obwohl mehr als 30 Jahre vergangen sind, bleibt diese Erinnerung kristallklar. Manchmal stelle ich mir vor, wie der gute Mann heute in seinem Ohrensessel sitzt, seine Musik genießt und sich an all die Begegnungen erinnert, die er durch seine Leidenschaft ermöglicht hat.
Für alle, die nur begrenzt Zeit haben, sei Browns Album „Hymns to What Is Left“ empfohlen. Der Titel selbst trägt eine tiefe Bedeutung – „Was bleibt übrig?“ Eine Frage, die mit zunehmendem Alter immer wichtiger wird.
Wie bei einer guten Bratensoße – wo durch langsames Reduzieren und Einkochen die konzentriertesten, intensivsten Aromen entstehen – destilliert die Zeit gewissermaßen die Essenz des Lebens.
Wenn Künstler, egal ob Musiker, oder Fotografen oder sonst was, den Punkt erreicht haben, wo sie sagen „fuck the audience“, dann steckt mehr vom Künstler im Werk als je zuvor.
Als Fotograf reduziert man die komplexe, vielschichtige Wirklichkeit auf einen einzigen, bedeutungsvollen Augenblick. Was im Rahmen verbleibt – „what is left“ – trägt die konzentrierte Essenz des gesamten Erlebnisses.
Fotografien gewinnen mit der Zeit an Tiefe und Bedeutung. Alte Aufnahmen entwickeln ihre eigene „Reduktion“ – sie werden zu Destillaten von Erinnerungen, Zeitepochen und vergangenen Gefühlen. Was zunächst vielleicht als alltäglicher Schnappschuss erschien, verwandelt sich mit den Jahren in ein wertvolles Konzentrat aus Geschichte und Emotion.
Ach ja, um was ging es hier eigentlich? Ich habe keine Ahnung, bin aber gespannt, ob ich vor der hundertsten Folge noch die tiefe, erdige Stimme von Greg Brown im Radio Jorns höre 🙂